Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!... Wer ein kurzes, romantisches Herbstgedicht sucht, wird bei Friedrich Hebbel (1813 – 1863) fündig. Er verfasste es im Jahre 1852. Klar und unverschnörkelt sind seine Zeilen und dabei so genau dran an der Natur, ein wunderschönes Lob auf die herbstliche Jahreszeit. An einem stillen, vielleicht noch etwas warmen Herbsttag, wohl um die Mittagszeit bemerkt der Dichter: Die Luft ist still, als atmete man kaum. Irgendwann wird jeder von uns vielleicht einmal einen solchen Moment erfahren haben und merken, dass ein merkwürdiges Gefühl von uns Besitz ergreift und eine Ruhe, vielleicht verbunden mit Melancholie, auf die Seele wirkt. Es ist kaum zu beschreiben. Erst, wenn man es selber erlebt hat, kann man davon berichten. Oder wir versetzen uns mit Hebbels Worten in den Zustand dieser Seelenstimmung, die er so wunderbar be- und umschreibt. Doch dafür sollten wir uns einen Moment der Ruhe gönnen und in ruhiger und entspannter Haltung die folgenden träumerischen Verse lesen.
∼ Herbstbild ∼
Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was von dem milden Strahl der Sonne fällt.
Friedrich Hebbel
Interpretation
Hebbels Herbstbild ist für mich das schönste Herbstgedicht überhaupt. Es sind Verse, welche man rational nicht interpretieren kann. Der Dichter malt ein Stimmungsbild, welches vielleicht jeder schon einmal so oder ähnlich erlebt hat. Er beschreibt die Mittagsstunde eines nachsommerlichen Tages voller Sonne und Wärme. Und es herrscht eine merkwürdige Stille in der Natur, welche man sonst nicht wahrnimmt. Wenn er auch von Natur spricht, so stimmt es nur im übertragenen Sinne.
Natur wäre in unseren Breiten ein undurchdringlicher Wald. Erst Generation um Generation hat aus dieser Wildnis fruchtbares Land geschaffen, Plantagen und Gärten angelegt, Obstbäume in Alleen gepflanzt und erhalten. So befindet sich der Dichter gedanklich in einer Kulturlandschaft mit alten Obstbäumen. Das ist ein Unterschied, der nicht vergessen werden sollte. Doch nun ist Ruhe eingekehrt. Keine menschliche Geschäftigkeit ist bemerkbar. Es herrscht absolute Stille. Und trotzdem ist die Natur noch am Wirken. Sie vollendet unsere Unrast allein mit den wärmenden Strahlen des Zentralgestirns.
Zeit der Reife
Eine weitere Möglichkeit der Interpretation dieses Gedichts bezieht sich auf die letzte Zeile des zweiten Verses: Was von dem milden Strahl der Sonne fällt. Es führt uns vor Augen, dass manche Dinge im Leben eine Zeit der Reife benötigen und erst dann, ohne unseres weiteren Zutuns, gelingen. Die Lese, welche die Natur selber hält, verkörpert hier die ewig wirkenden Gesetze der Natur, die wir auch mit unserer Ungeduld nicht umgehen können. Dieses Warten auf das Wirken der Urkraft ist natürlich nicht in jeder Lebenssituation möglich.
Doch so selten solche schönen Herbsttage sind, an denen die Zeit scheinbar kurz verweilt, kreuzen sie doch dann und wann auch unsere Lebenswege, und wir sollten achtsam sein und sie nicht übersehen. Wenn wir dann den milden Strahl der Sonne auf der Haut spüren, auch das mag eine Metapher sein, ist der Moment gekommen, innezuhalten und zu schauen, ob sich nicht das eine oder andere Problem von selber löst. Wenn dann wieder andere Tage kommen mit Wind und Wetter, ist auch das Selber-Handeln nötig. Das wird an den meisten Tagen des Jahres so sein. Doch sollten wir in aller Unrast und Vielfalt der Pflichten aufmerksam bleiben für die oft ganz unverhoffte Berührung mit dem Göttlichen.
P.S.: Ein ähnliches Stimmungsgedicht schrieb Friedrich Hölderlin mit dem Titel "Hälfte des Lebens". Auch die romantischen Verse von Eduard Friedrich Mörike "Septembermorgen" (Im Nebel ruhet noch die Welt) oder das wunderschöne Herbstgedicht von Johannes Schlaf "Herbstsonnenschein". reihen sich in diese Form der Seelenstimmung ein.
Gedichtinterpretation von G.J. [ZP.GJ.2.19]