Goldenes HerbstlaubGoldenes Herbstlaub.
Goldenes Herbstlaub.

Der Herbst mit seinem Feuerwerk an Farben, seinen wechselnden Naturstimmungen und der Vorahnung auf den Winter weckt in vielen von uns die Sehnsucht nach romantischen Worten und Versen. Da wundert es nicht, warum Herbstgedichte so beliebt sind. Nicht zuletzt gehört das Auswendiglernen von Gedichten zu unserer Kultur und wird in den Schulen praktiziert. Ein besonders heimeliges, vielleicht auch ein wenig erotisches Gedicht stammt von Johannes Schlaf. Die zwei Verse werden mit den Worten eingeleitet: Herbstsonnenschein, der liebe Abend lacht so still herein... Sofort beginnt unsere Phantasie ihr Bild zu malen, eine herbstliche Stimmung vielleicht an einem ruhigen und freundlichen Oktoberabend. Ein Feuerlein rot knistert im Ofenloch und loht [brennt]. Und weiter eröffnet sich uns ein Bild der Ruhe und Entspannung. Es ist so still, keine Hektik, kein Lärm, und wir lassen uns darauf ein und lauschen dem Knistern im Ofen. Das kurze Gedicht führt uns weiter in eine rein emotionale Welt, und am Ende geht es dann doch um das Zeitgefühl und ein Verständnis der Zeit.

Denn den Versen stellte der Dichter folgende romantische Einleitung voran: Da wollen wir beieinander sitzen in Herbstmonddämmer hinein und leise verlorene Worte plaudern. —

Herbst
2.

Herbstsonnenschein.
Der liebe Abend lacht so still herein.
Ein Feuerlein rot
Knistert im Ofenloch und loht.

So! – Mein Kopf auf deinen Knie'n. —
So ist mir gut;
Wenn mein Auge so in deinem ruht.
Wie leis die Minuten ziehn! ...

Johannes Schlaf

Man merkt schnell, dass es sich nicht nur um ein Herbst-, sondern zugleich auch um ein Liebesgedicht handelt. Es stammt aus der Feder des deutschen Dramatikers und Erzählers Johannes Schlaf (1862 – 1941). Schlaf gehörte seinerzeit der Strömung des Naturalismus an und gilt als einer seiner wichtigsten Vertreter. Vorliegendes Werk veröffentlichte der Dichter in der Sammlung "Helldunkel".

Eingangs sprach ich zwar von einem kurzen Herbstgedicht, aber genau genommen sind die Zeilen nur der zweite Teil des Gedichts "Herbst", wobei beide Teile durchaus für sich stehen können.

Herbst
1.
Nun kommen die letzten klaren Tage
Einer müderen Sonne.
Bunttaumelnde Pracht,
Blatt bei Blatt.
So heimisch raschelt
Der Fuß durchs Laub.

O du liebes, weitstilles Farbendlied!
Du zarte, umrißreine Wonne!

Komm!
Ein letztes Sonneblickchen
Wärmt unser Heim.
Da wollen wir sitzen,
Still im Stillen,
Und in die müden Abendfarben sehn.
Da wollen wir beieinander sitzen
In Herbstmonddämmer hinein
Und leise
Verlorene Worte plaudern. —

Interpretationen

Wer den Sinn dieses Herbstgedichts einmal verinnerlicht hat, wird immer wieder zu ihm finden, denn es spricht mehr als nur das Gefühl an. Dem Dichter geht es auch um das Phänomen der Zeit. Wenn wir ihren Takt und Kreislauf rational erfassen wollen, müssen wir sie durchaus zuvor emotional erfassen. Dazu braucht es Ruhe. Johannes Schlaf beschreibt es sehr deutlich: Da wollen wir sitzen, still im Stillen, und in die müden Abendfarben sehn. Diese Ruhe meint das Nichttätigsein, die schweigende, sowohl akustische als auch optische Geräuschlosigkeit, die uns das dichterisch gemalte Herbstbild zuteil werden lässt. In diesem Zustand kann es sein, dass wir mehr oder weniger lange Momente der Zeitlosigkeit genießen. Finden wir dann langsam wieder in die Wirklichkeit zurück, beginnt (anfangs noch recht ruhig) der Puls der Zeit wieder zu schlagen. In diesem Pulsieren bemerken wir dann vielleicht, was Zeit in Tiefe und Länge und Rhythmus bedeuten kann.
Johannes Schlaf romantisiert sicher dieses Vermögen des produktiven Nichtstuns aber auch ganz einfach deshalb, weil er in einer Welt groß wurde, in der der alte, an den Jahreskreis gebundene Lebensrhythmus schon einige Jahrzehnte der Vergangenheit angehörte. Jene "guten alten" Tage waren die beschauliche Biedermeierzeit, die mit der Erfindung der Dampfmaschine ein jähes Ende fand. Im Jahre 1829 entwickelte der Engländer Stephenson die erste brauchbare Lokomotive, die schwere Lasten mit hoher Schnelligkeit ziehen konnte. Bereits sechs Jahre später, also 1835, wurde die erste deutsche Dampfbahn auf der Kurzstrecke Nürnberg – Fürth für den Verkehr freigegeben. Daraufhin folgte 1839 in Sachsen der Bau der ersten großen Bahnstrecke Deutschlands, der Linie Leipzig – Dresden, und bis zum Geburtsjahr des Dichters gab es in Deutschland Bahnstationen in jeder größeren Stadt und auch schon überall auf dem Lande. Mit dem Fahrplan der Eisenbahn lebten die Menschen nun aber im Takt der Minuten und nicht mehr im Takt der Stunden, Tage und des Jahreskreises. Trotz der mittlerweile verbreiteten Erkenntnis, dass diese Entwicklung sich nicht gut auf das Wohlbefinden des Menschen auswirkt, hat sich daran nichts geändert. Sogar das Gegenteil ist der Fall. Doch die meisten von uns fühlen, so wie Johannes Schlaf damals schon, dass wir eine Spezies sind, welche nicht in diese Welt des Minutentaktes hineingehört. Doch so, wie es der Dichter romantisch verklärt, sind Situationen, wie sie in diesem Herbstgedicht beschrieben sind, wohl eher Phantasie und ein gewisses Nachtrauern einer "guten alten Zeit". Aber das muss nicht so sein.

In meinen Publikationen "Immerwährender Gartenkalender" gehe ich regelmäßig auch auf die realistischen Möglichkeiten ein, wieder unseren "artgerechten" Lebensrhythmus zu finden. Diese Kalender, die genau genommen als Garten-Tagebuch genutzt werden sollten, und in erster Linie nützliches Gärtnerwissen vermitteln, haben jeweils am Ende eine mehr philosophierende "Nachlese". Im Band Nr. 2 (Herbstanbau von Gemüse) geht es explizit um die andere Zeitrechnung, wo das Jahr den Tag ersetzt. Und der Herbst wird ganz besonders in Augenschein genommen, mit der Eigentümlichkeit, dass unsere Altvorderen den Herbst als solches, also als eigenständige Jahreszeit, gar nicht kannten. Für die Landbevölkerung gab es nur Frühling, Sommer, Winter (spring, summer, winter), wobei der Sommer zum Martinstag endete. Bis dahin gibt es nach den Hochsommertagen immer wieder ein wellenartiges Auflodern warmer, sonniger Tage, wobei diese milden Wetterperioden (z.B. Altweibersommer, Goldener Oktober, Martinisommer) immer kürzer werden und am Ende völlig erlöschen.
Das Gärtnern kann durchaus eine Hilfe sein, diesen Rhythmus wiederzufinden, der tatsächlich mit dem bäuerlichen Wirtschaftsjahr zu tun hat. Doch auch für den, der sich nach diesen alten Daseinszyklen sehnt und keinen Garten hat, gibt es in meinem Immerwährenden Garten- und Naturkalender Band Nr. 4 – Selbstversorgung ohne Garten viele Anregungen und Möglichkeiten, neue Pfade zu betreten.


Hinweise, Quellen, Literatur
Schlaf, Johannes; Helldunkel [Gedichte]; Minden in Westf. 1899
Jacob, Thomas; Immerwährender Gartenkalender Band Nr. 2 – Herbstanbau von Gemüse, Dohna 2021
Jacob, Gisela und Thomas; Immerwährender Garten- und Naturkalender Band Nr. 4 – Selbstversorgung ohne Garten, Dohna 2022