Wiese am Septembermorgen Septembermorgen, von Friedrich Mörike
Septembermorgen, von Friedrich Mörike

Im Nebel ruhet noch die Welt ... Wer auf der Suche nach einem kurzen, romantischen Spätsommer- oder Herbstgedicht ist, wird ganz sicher bei Friedrich Mörike (1804–1875), dem deutschen Pfarrer, Lyriker und Biedermeierdichter fündig. Die Verse beschreiben eine Jahreszeit, die nicht mehr Sommer aber auch noch nicht richtig Herbst ist. Die Alten nannten diese Tage den Altweibersommer, wohl wegen der vielen Spinnweben und fliegenden Spinnenfäden, die im schräg einfallenden Sonnenlicht der Spätsommertage sichtbar werden. Die Fäden sollen an ergrautes, langes Haar erinnern. Aber auch der morgendliche Tau nach einer Nebelnacht macht mit einem Male geheimnisvolle gesponnene Welten sichtbar, wenn sich zu hunderten die Tautropfen in den Netzen der Gliederfüßer fangen. Taunächte kennt der Hochsommer nicht, und wenn wir solche Morgenstimmung bemerken, ist dieser dann wohl auch bereits vorbei. Für denjenigen, der täglich zur Schule gehen muss und damit morgens zeitig auf den Beinen ist, gibt es im September dieses Naturerlebnis natürlich gratis. Und wer solch einen stimmungsreichen Morgen schon einmal bewusst wahrgenommen hat, wird das Mörike-Gedicht vielleicht auch leichter lernen können, als die Verse anderer Dichter. Probier es aus.

∼ Septembermorgen ∼

Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.

Friedrich Mörike

Interpretation

Man mag meinen, für den Schulunterricht sei eine Gedichtinterpretation (hier Mörike, Septembermorgen) einfach zu bewerkstelligen, doch bei Naturbetrachtungen und vor allem bei einem Stimmungsbild wie diesem ist das gar nicht immer so einfach. Besonders dann, wenn man die Verse etwas individuell und einmalig interpretieren möchte.
Was will uns der Dichter damit sagen ... wenn er eigentlich doch gar nichts sagen, sondern mehr ein Gefühl erzeugen will?
Mörike hat es leicht, denn mit seinen sechs Zeilen hat er schon alles ausgedrückt, was nötig ist. Das sollten auch wir uns für den Alltag vornehmen. Egal, wohin wir schauen bzw. hören, es wird geredet und geredet, und man hat den Eindruck, es ist keiner da, der noch richtig zuhören kann. Und wenn etwas gesagt wurde, braucht es statt sofortiger Antwort oder Erwiderung einen Moment der Ruhe, des Nachdenkens und Erfassen des Gehörten. Und so sollte auch beim Rezitieren eines Gedichtes nicht Wort für Wort und Zeile für Zeile im Eiltempo durchlaufen werden. Jedes Gedicht hat seinen Pulsschlag und seine Pausen, und das sollten wir wiederum in jeder Stunde, jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat und jedem Jahr so empfinden. Doch häufig kommt uns im Spätsommer zu Bewusstsein, das wir beim Hasten und Laufen durch das Jahr diesen Rhythmus der Zeit ganz vergessen haben. Ich habe das in den einführenden Worten bereits angedeutet. Wenn die ersten Nebel- und Tau-Nächte kommen, ist der Sommer schon fast vorbei. Bildlich gesprochen mag der Sommer auch für unsere Ziele und Vorhaben stehen. Wir haben uns im Jahr oder auch im Leben oft so manches vorgenommen, und dann ist auf einmal  die Zeit dafür so gut wie verstrichen. Manches ist unvollendet geblieben. Drückt das Gedicht "Herbsttag" von Rainer Maria Rilke aus, wie die Tat-Zeit endgültig verstrichen ist ("Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr."), bleibt uns in Mörikes "Septembermorgen" noch eine kleine Frist.
Im Jahreskreis der Natur flammt der Sommer nämlich bis weit in den November hinein immer wieder auf und sendet uns, in manchen Jahren mehr und in anderen weniger, wärmende Sonnenstrahlen. Nach dem uns bekannten Früh- und Hochsommer folgt der Altweibersommer im September, auf diesen der Goldene Oktober und darauf der sogenannte Martinisommer (Anfang November). Es bieten sich vom Rhythmus der Natur also noch etliche Gelegenheiten, Unvollendetes zu vollenden. 
Dieser fast nicht enden wollende Sommer-Zyklus lässt sich bis in allerälteste Zeiten zurückverfolgen, als unsere Vorfahren das Jahr lediglich in Frühling, Sommer und Winter teilten. Für den Herbst kannte man selbst im Frühmittelalter noch keine Bezeichnung [1]. Der Grund dafür mag sein, dass die Jahreszeiten durch die überwiegend bäuerliche Tätigkeit, welche sich bekanntermaßen nach dem Zyklus der Natur richten muss, eingeteilt wurden. So begann das landwirtschaftliche Arbeits- und  Wirtschaftsjahr mit dem Vorfrühling (Lichtmess) und dauerte bis zum Martinsfest (11. November). Dieser langen Spanne der Tätigkeit folgte dann, nach üppigen Festtagen, nach Martinsgans und Martinifeuer, eine ruhigere Taktung des Lebens – der Winter. Im Gegensatz zu heute zwang die kalte (dunkle) Jahreszeit zum Innehalten, zum Krafttanken für das kommende Jahr und zum Bilanzziehen der bis dahin erledigten Arbeit. Mit dem Zeitalter der Maschinen und Eisenbahnen sowie der Taktung des Lebens nach Stunden und Minuten verlor sich der naturgegebene Lebensrhythmus der Menschen (in unserem Immerwährenden Gartenkalender Band. Nr. 3 wird auf diese Thematik tiefgehend eingegangen).
Kommen wir jedoch wieder zur Interpretation des Gedichts zurück, in der Sommer und Sommertag als Metapher für unsere Vorhaben stehen könnten, wie auch für unser Tätigsein und das Umsetzen von Ideen- und Gedanken. Der morgendliche Nebel mag durchaus ein Bild für unsere etwas unstrukturierte, nebelhafte Ideenwelt stehen. Sie gehört auf alle Fälle zum Mensch-Sein dazu. Selbstverständlich kann und sollte man es genießen, einen Moment still in dieser romantischen Schleier-Welt zu verharren, doch irgendwann sollten Sonne und blauer Himmel (beide sind hier das Sinnbild für Rationalität und Tatkraft [2]) dann doch die Oberhand gewinnen. Neben der Welt des Nebels und des Unklaren, die auch eine Welt des Unerforschlichen ist (Symbolik des Schleiers), gibt es Tagstunden genug, den Raum der klar erkennbaren Strukturen zu betreten.
Wer eine Gedichtinterpretation in Sachen Unerforschliches und Verborgenes sucht, kann übrigens auch bei Goethe fündig werden, der einmal meinte: "Es gibt in der Natur ein Zugängliches und ein Unzugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl mit Respekt." [3]
Gedichtinterpretation und Bildrechte ©2022 G.J. [ZP.GJ.2.20]


[1] Auch war diese alte Zeitepoche des Mittelalters klimatisch wärmer als heute (mittelalterliches Klimaoptimum ca. 950–1250 n.Chr) und hatte vermutlich sehr lange herbstliche Schönwetterperioden, so wie sie heute ebenfalls manchmal auftreten. Das Wissen um dieses wärme Klima ist heutzutage aber recht vernebelt.
[2] Symbolik ist in Gedichten oft erst aus dem Kontext heraus zu verstehen.
[2] Burkhardt, C.A.H.; Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Müller; Stuttgart 1870; S. 112 (Mittwoch, den 11. April [1827])