sonnenuhrSonnenuhr.
Sonnenuhr.

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß... ein Herbstgedicht des bekannten österreichischen Lyrikes Rainer Maria Rilke (1875–1926), welches 1902 in seinem Buch der Bilder veröffentlicht wurde. Es sind tatsächlich außergewöhnliche Verse, von denen der eine oder andere meint, dass es zu den berühmtesten deutschsprachigen Gedichten zählt. Auf jeden Fall was die Lautmalerei der Bilder und der Klang der Worte betrifft. Ähnliches finden wir bei Goethes "Ein Gleiches" (Über allen Gipfeln ist Ruh). Doch auch der innere Sinngehalt der Zeilen geht tiefer als es beim ersten Lesen den Eindruck vermitteln mag, wie es die Interpretation zeigen soll. Letztlich müssen wir gar nicht versuchen, die Verse rational zu verstehen. Es genügt, sie hin und wieder im Geiste zu rezitieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, worauf es im Leben ankommt.

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke (Paris 1902)

Interpretation

Das Gedicht beginnt mit einem Gebet "Herr: es ist Zeit." und zeigt uns die eigentliche Thematik, um die es in diesen Versen geht. Es sind Gedanken zum Fluss und zur Ausnutzung der Lebenszeit.
Vordergründig ist es aber auch ein sprachkräftiges Herbstgedicht. Die Verse beschreiben bilderstark die gegensatzreiche, späte Jahreszeit zunächst mit dem abnehmenden Licht und der Zeit der langen Schatten. Im zweiten Vers folgen dann plötzlich, wie unverhofft, Tage der Wärme und der Fülle. So geht es häufig auch im Leben zu. Auf schwere Zeiten folgen heitere Tage und auf diese wiederum Sturm und Schatten. Rilke beschreibt das Auftreten dieser Gegensätze als eine Gesetzmäßigkeit, als das Wirken der Natur, wobei das ständige Auf und Ab, das Hell und Dunkel ein Drängen zur Vollendung ist.
Der dritte Vers beschreibt, wie es aber auch ein Stocken in diesem Lauf zur Vollendung geben kann. Die Zeit von Saat und Ernte ist vorerst vorüber, und auf den arbeitsreichen Herbst folgt die Ruhe des Winters. Jede Zeit hat ihre Qualitäten und Aufgaben, die es zu erfüllen gilt und: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr". Das heißt, die Realität holt den Grübler ein, den Unentschlossenen. Nun überkommt ihn eine Zeit der Unruhe, verursacht durch versäumte Gelegenheiten. Es ist die Realität, die er nicht mehr ändern kann, zumindest nicht in diesem Jahr.
Ein weitere Möglichkeit der Interpretation, die oft herangezogen wird, ist das Philosophieren über Tod und Sterben. Rilke ist durchaus dafür bekannt, dass er diesen Themenkreis immer wieder aufgriff und dazu etliche Gedichte verfasste hat, wie beispielsweise "Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen – lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns." Wer will, kann seine Gedanken in diese Richtung gehen lassen. Ich meine aber, man sollte durchaus etwas ehrgeiziger sein und ganz andere Ansatzpunkte sowie Metaphern entdecken, welche in diesem dichterischen Bildwerk zu finden sind. Schauen wir uns hierzu so einfache Formulierungen wie "wachen, lesen, lange Briefe schreiben ..." an. Man mag geneigt sein, "wachen" und "lesen" nur als negative Folge falschen Handelns zu sehen. Doch interpretieren wir dieses Bild einmal ganz anders. Das Erwachen ist ja in vielen Allegorien ein positives Bild, und das Lesen, Studieren und Schreiben – also das wache Resümieren – ebenfalls. Dass man im Leben die eine oder andere Gelegenheit verpasst, ist durchaus menschlich. So wird in der religiösen Philosophie die Welt, in der wir leben, als eine Art Irrgarten oder Labyrinth gesehen – und Irren ist bekanntlich menschlich. Immerhin ist uns damit ein Ansatzpunkt gezeigt, auf welche Art und Weise wir Krisen und Verirrungen korrigieren können. Der wache, realistische Blick auf vergangene Begebenheiten und die Lehre daraus ist bereits ein Teil der getätigten Korrektur. Es ist eine Art Saat einer neuen Idee, welche alsbald aufkeimen und erstarken wird.
Prinzipiell sind die langen, kalten Herbsttage eine Gelegenheit, auf Vergangenes zu schauen. Die Tradition hat auf diese Zeit die Toten-Gedenktage wie Halloween (keltisch), Allerseelen (katholisch) und Ewigkeits-Sonntag (evangelisch) gelegt. Auch das Ahnengedenken ist durchaus eine Form des "wachen, lesen, lange Briefe schreiben", welche wir viel ausgeprägter in den fernöstlichen Kulturkreisen finden. Auch in unserer Tradition gehörte es wie selbstverständlich dazu, aus den Lebensläufen unserer familiären Vorfahren zu lernen und sie im Gedenken zu ehren. In unserer modernen Welt neigt man eher dazu, aus allen möglichen Quellen und aus der allgemeinen Historie zu lernen. Dabei bestimmt unser genetisches Erbe durchaus eine Vielzahl unserer Gedanken und Handlungen. Für Koreaner, Chinesen und Japaner gehört dieses Wissen wie selbstverständlich zum Alltag. Viele Europäer bewundern das natürliche Verbundensein der Asiaten mit ihren Vorfahren, aber uns ist unsere eigene alte Kultur überwiegend fremd geworden: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr." — oder doch?
Gedichtinterpretation: G. Jacob

P.S. Ein kurzes Gedicht von gleicher Schönheit stammt von Friedrich Hebbel mit dem Titel Herbstbild.

G.J. [ZP.GJ.2.1] Zählpixel2.1