Person im herbstlichen Wald auf einem Waldeg

🍁 Der Herbst gilt in der Dichtung seit jeher als Sinnbild der Vergänglichkeit. Farbenprächtig und still trägt er die doppelte Botschaft von Schönheit und Abschied. In seinem Gedicht „Herbst“ bringt Theodor Fontane diese Ambivalenz in wenigen, eindringlichen Versen zum Ausdruck. Wir lesen das Herbstgedicht und folgen dann einer besonderen Interpretation.

Zunächt das Gedicht

Herbst

O du wunderschöner Herbst,
Wie du die Blätter golden färbst,
Deiner reinen Luft so klar und still,
Noch einmal ich mich freuen will.

Ich geh den Wald, den Weiher entlang;
Es schweigt das Leben, es schweigt Gesang,
Ich hemme den Schritt, ich hemme den Lauf
Erinnerungen ziehen herauf.

Erinnerungen sehen mich an,
Haben es wohl auch sonst getan.
Nur eins hält nicht mehr damit Schritt.
Lachende Zukunft geht nicht mehr mit.

Vergangenheit hält mich in ihrem Bann,
Vergangenheit hat mir’s angetan;
Den Blick in den Herbst, den hab ich frei,
Den Blick in den Herbst. Aber der Mai?

Theodor Fontane (1819-1898)

Interpretation

Ein goldener Anfang

☀️ Das Gedicht beginnt mit einem Lobgesang auf die Jahreszeit:

O du wunderschöner Herbst,
Wie du die Blätter golden färbst …

🍂 Die Bilder sind hell und freundlich. Goldene Blätter, klare Luft – der Herbst erscheint als eine letzte Blüte, als Fülle vor dem Verfall. Hier schwingt Dankbarkeit mit, fast so, als wolle sich das lyrische Ich noch einmal bewusst freuen, bevor Dunkelheit und Kälte einsetzen.



Das Schweigen der Natur

🍂 Doch schon in der zweiten Strophe kippt die Stimmung. Der Sprecher geht durch Wald und Weiher – doch dort herrscht Schweigen:

Es schweigt das Leben, es schweigt Gesang …

Dieses Verstummen der Natur ist mehr als nur ein Herbstbild. Es spiegelt die innere Verfassung des Dichters: Die Lebenskraft lässt nach, die Bewegung stockt – „Ich hemme den Schritt, ich hemme den Lauf.“ Statt Vorwärtsdrang herrscht Stillstand.

Erinnerungen im Bann

Besonders eindringlich sind die Verse, in denen Erinnerungen aufsteigen:

Erinnerungen ziehen herauf.
Erinnerungen sehen mich an …

🍂  Vergangenheit erscheint hier nicht als freundlicher Rückblick, sondern als übermächtige Präsenz. Sie ist so stark, dass sie fast wie eine eigene Gestalt neben dem Sprecher steht. Vergangenes Leben, frühere Erlebnisse, vielleicht auch verpasste Chancen – all das lässt sich nicht abschütteln.

Verlust der Zukunft

Die eigentliche Melancholie des Gedichts liegt in den von der Textmelodie eher holprigen Zeilen – was vermutlich so gewollt ist:

Nur eins hält nicht mehr damit Schritt.
Lachende Zukunft geht nicht mehr mit.

🍂  Vergangenheit ist lebendig, aber die Zukunft ist verschwunden. Für den jungen Menschen ist sie noch ein Versprechen, eine offene Weite. Für den Sprecher aber ist diese Dimension verschlossen. Er kann die Schönheit des Herbstes genießen – aber ohne Hoffnung, ohne Aufbruch.

Das Seufzen nach dem Mai

Der letzte Vers ist eine Frage, beinahe ein Seufzer:

Den Blick in den Herbst, den hab ich frei,
Den Blick in den Herbst. Aber der Mai?

🍂  Hier wird der Kontrast endgültig sichtbar. Der Mai – Sinnbild der Jugend, der Blüte, des Neubeginns – ist unwiederbringlich verloren. Das Gedicht endet offen, ohne Trost, ohne Lösung. Stattdessen bleibt nur die leise Resignation: Der Mai kommt nicht zurück.



Schlussbetrachtung: Schönheit im Schatten der Vergänglichkeit

✍️ Fontanes „Herbst“ ist weit mehr als ein Naturgedicht. Es ist ein Altersgedicht, eine Meditation über die Vergänglichkeit. Der goldene Glanz der Jahreszeit ist von Wehmut überlagert. Das lyrische Ich erkennt: Die Zukunft lacht nicht mehr, die Vergangenheit hält ihn fest, und die Gegenwart ist ein stiller Zwischenraum zwischen beiden.

Damit spricht das Gedicht eine Erfahrung an, die über Fontanes Zeit hinausreicht: die Erkenntnis, dass alles Schöne vergänglich ist – und dass selbst die Freude des Augenblicks von Melancholie begleitet sein kann.

Aber achten wir nicht so vieles erst dann, wenn es uns aus den Händen zu gleiten scheint? Man hat wohl schon einmal festgestellt, dass sich in Romanen oder in der Filmkunst jene Werke besonders gut verkaufen, die in einer Zeitepoche spielen, die gerade erst vergangen ist und verklärt vor unseren Augen steht – weil sie doch schon unwiederbringlich verloren ist.

Wäre nicht auch das ein Ansporn, das Jetzt mehr zu achten – und einen Blick in die gegenwärtige Wunderwelt zu wagen?

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