Blaue Waldblume1) Scilla siberica
1) Scilla siberica

Dieses Goethe-Gedicht gehört eigentlich in die Kategorie der Liebesgedichte, doch nicht ohne Grund sprechen viele Gartenfreunde auch vom Pflanzenliebhaber Goethe. Dieses sehr populäre Gedicht des deutschen Dichterfürsten ist weniger durch seinen Titel bekannt, als durch die ersten Zeilen "Ich ging im Walde so für mich hin". Ungeachtet dessen finden wir hier ungeahnt tiefgründige Gedanken über die Liebe und über Chancen im Leben, die es zu ergreifen gilt.

Gefunden

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Ich grub's mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich's
Am hübschen Haus.
Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

J. W. von Goethe

Interpretation (Auslegung): das Unerwartete erfassen

Im einführenden Text oben erwähnte ich bereits, dass es sich hier um ein klassisches Liebesgedicht handelt. Goethe widmete es seiner Lebensgefährtin Christiane. Im Alter von 39 Jahren lernte er die 23 Jahre junge Christiane Vulpius kennen, die der berühmte Dichter schließlich nach 18 Jahren ehelichte. Mit ihr lebte er bis zu Christianes Tod (1816) innig verbunden zusammen. Die Deutung der Verse aus der Sicht Liebender ist sicher leicht zu finden und muss hier nicht sonderlich ausgeführt werden. Man kann sie aber auch lebensphilosophisch deuten, und bei Goethe schwingen solche Anspielungen wohl auch immer mit: "Und nichts zu suchen, das war mein Sinn". Diese Worte lehren uns, dass der Mensch hin und wieder solcher Planlosigkeit frönen soll. Und genau dann, wenn wir uns nichts erhoffen oder nichts erwarten, öffnen sich völlig unerwartet neue Türen im Leben.
Diese Lebensart, welche die Philosophen manchmal als "Leichtigkeit des Seins" bezeichnen, steht dem völlig durchplanten Alltag diametral entgegen. Etwas Planung ist zwar gut, doch am Ende kommt es darauf an, sowohl die Planung umzusetzen als auch ungeplante Gelegenheiten beim Schopfe* zu packen.
Ich halte das Wachbleiben für den richtigen Augenblick und dann auch das Nutzen desselben wichtiger, als die sture Ausführung eines einmal gefassten Planes, wobei das Erkennen und Nutzen von Gelegenheiten erlernt sein will. Wie viele Möglichkeiten, wie beispielsweise ein Wechsel im Job, wenn wir mit unserer Arbeit nicht zufrieden sind, streichen an uns vorüber, weil wir es verlernt haben, mögliche Chancen auszumachen und dann auch zu ergreifen.

Amor Fati – die Liebe zum Schicksal

Der Philosoph Friedrich Nietzsche prägte den lateinischen Begriff "Amor Fati", was auf deutsch "Liebe zum Schicksal" bedeutet. Es bezieht sich auf die Idee, das Schicksal anzunehmen und jede Gelegenheit, die sich bietet, zu nutzen, egal ob sie positiv oder negativ erscheint. Es geht darum, das Leben in seiner Gesamtheit zu akzeptieren und zu umarmen, einschließlich aller Wendungen und Herausforderungen.
Goethe lebte ganz sicher diese Philosophie, doch zeigt er uns auch, wie wir gute Gelegenheiten nicht nur ergreifen, sondern sie uns auch zueigen machen können:
"Ich grub's mit allen den Würzlein aus." will sagen: Dem aufmerksamen Lebensbeobachter bietet zwar das göttliche Schicksal unentwegt Chancen und Möglichkeiten, wenn wir diese aber nicht mit aller Radikalität (radicans = wurzelnd) gründlich erfassen und kultivieren** (Ich grub's mit allen den Würzlein aus. Zum Garten trug ich's.), werden wohl die (vor allem) süßen Schicksalswendungen am Ende doch ungenutzt bleiben.

Übrigens: Bei dem tintenblauen Waldblümchen im Bild 1) handelt es sich um ein Scilla siberica, eine Sorte des Sibirischen Blausterns. Ob es das Blümlein Goethes war, ist natürlich nicht gewiss, es könnte auch ein Wald-Vergissmeinnicht gewesen sein oder ein Veilchen.

[GJ.3.4] Zählpixel I G. Jacob, (2016) 3.2.2024


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* Die Redensart, die Zeit oder die Gelegenheit "beim Schopfe (bei den Haaren) packen", bedeutet, eine Gelegenheit zu ergreifen oder eine günstige Situation zu nutzen, wenn sie sich bietet. Der Ausdruck leitet sich von der griechischen Mythologie ab, genauer gesagt von der Darstellung des geflügelten Zeit-Gottes Kairos. Dieser repräsentiert im griechischen Mythos den günstigen Moment oder den richtigen Zeitpunkt. Anders als der Gott Chronos, der die lineare, quantitative Zeit symbolisiert, steht Kairos für die qualitativen Aspekte der Zeit, wie den entscheidenden Augenblick oder die passende Gelegenheit.
Kairos wird oft als junger Mann mit einer langen Stirnlocke und einem ansonsten kahlen Kopf dargestellt. Die Haarsträhne gilt es zu ergreifen, wenn Kairos (die Gelegenheit) uns zu kommt – wenn wir ihm Auge in Auge gegenüberstehen. Ist der günstige Augenblick vorüber, d.h. in Form des geflügelten Griechengottes an uns vorübergeflogen, greifen unsere Hände nur noch nach der glatten Glatze des Mannes.

**An dieser Stelle könnte man bei einer Gedichtinterpretation auf auf die Termini von Natur und Kultur eingehen; auf das Kultivieren der Natur oder auf Natur und Kultur des Menschen. Es ist ein Thema, welches welches schon oft philosophisch betrachtet wurde. Eine einführende kurzweilige Themeneinführung finden wir zum Beispiel bei Marshall David Sahlins (US-amerikanischer Anthropologe, 1930 2021), der die philosophische Entwicklung von der Urzeit an bis heute darstellt und letztlich zum Ergebnis kommt, dass die Kultur die Natur des Menschen ist.
SAHLINS, Marshall; Das Menschenbild des Abandlands – ein Missverständnis? Übersetzt von Andreas Leopold Hofbauer; Berlin 2017