Eisfläche auf einem SeeAuf dem dünnen Glase stand ich da ...
Auf dem dünnen Glase stand ich da ...

Wohl im Jahre 1851 veröffentlichte Gottfried Keller dieses sehr romantisch-mystisch anmutende Gedicht. Es entstand schon gut fünf Jahre vorher. Dabei ist zu bemerken, dass etwa mit dem Jahre 1848 in Europa die Periode der literarischen Romantik abgeschlossen war. Ihr folgte die Literaturepoche des Realismus, deren wichtiger Vertreter neben Theodor Storm oder Marie von Ebner-Eschenbach auch Gottfried Keller darstellt. Um so interessanter mag es sein, dass die hier vorliegenden Zeilen wohl weniger dem neuen Zeitgeist folgen. Es ist ein Wintergedicht der romantischen Schule, obgleich in Deutschland durch die Revolution (1848) der Bruch im Literaturstil einen klaren Schnitt erhielt, ist Kellers Werk "Winternacht" eine Auseinandersetzung mit dieser damaligen "neuen Zeit".

Schauen wir zunächst auf den Inhalt des Gedichts, welches uns ein geheimnisvolles Bild winterlicher Stille vor Augen führt. Es ist ein Moment von tiefer Dunkelheit und Stille – ein Moment der Zeitlosigkeit, indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft still steht. Das Eis, durchsichtig wie Glas, liegt auf der schwärze des Sees als unüberbrückbare Scheidewand zwischen zwei Welten und Zeiten:

Winternacht

Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.

Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Ästen klomm die Nix’ herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor.

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied:
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.

Mit ersticktem Jammer tastet’ sie
An der harten Decke her und hin,
Ich vergeß’ das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!

Interpretation

Jedem, der das Gedicht der Winternacht aufmerksam gelesen hat, wird sicherlich schnell klar, dass das Bild vom nächtlichen gefrorenen See, von den Schritten auf der tiefschwarzen Eisfläche sowie von der unter ihr wahrgenommenen Nixe auch tiefenpsychologische Aspekte aufweist. Hier mag es durchaus weniger der Symbolismus verstrichener Literaturepochen sein, wie der der Zeit der Empfindsamkeit oder der der eingangs erwähnten Romantik. Eher ist es ein Spiel mit tiefenpsychologischen Aspekten, wie mit Ängsten (Phobien) vor Dunkelheit und Stille oder der dünnen zerbrechlichen Trennschicht von Leben und Tod.

Symbolik, bzw. Bedeutung der Nixe im Gedicht

Nixe ist der alte, allgemeine germanische Name, der für Wassergeister beiderlei Geschlechts steht. Der männliche Nixe, auch Nicker, Nickel- oder Wassermann genannt, zeigt sich gewöhnlich nur einzeln. Er gleicht einem kleinen, ältlichen, bärtigen Mann und ist den Sagen nach an seinen Fischzähnen oder auch an seinen entstellten Ohren oder Füßen zu erkennen. In den Erzählungen verwandelt er sich manchmal in ein Ross, einen Stier oder in einen Fisch. Er ist meist grausam und Rachsüchtig. Allgemein berichten die Sagen also nichts vorteilhaftes über seine Person. Der männliche Nixe, der Nickelmann, geistert also in der germanischen Mythenwelt ziemlich klar und deutlich als Symbol für das Böse und Animalische im Menschen, bzw. in der menschlichen Gesellschaft.

geheimnisvolles Nixenwesen im Wasser

Vorteilhafter erscheinen in den Sagen hingegen die weiblichen Wassergeister, die Nixen (auch Undinen, Nereiden, Nymphen), die ausnahmslos als schöne Jungfrauen (daher auch Meerjungfrau) dargestellt sind. Eigentlich erkennt man sie nur am nassen Saum ihrer Gewänder. Nach den Erzählungen sind es nicht ausnahmslos Jungfrauen mit Fischunterleib. Manchmal sind es mit Schilfgras gegürtete, nackte Wasserfrauen. Sie lieben Musik und Tanz. Und so mischen sich gern unter tanzende Menschen und knüpfen mit Jünglingen Liebschaften an. In den Sagen sind sie für Weissagung und Schicksal zuständig und können zu Reichtum verhelfen. Allerdings bedürfen sie den überlieferten Sagen nach auch der menschlichen Hilfe. Dieser letzte Aspekt macht unser Gedicht zum Drama. Das nicht Helfen können, malt der Dichter Gottfried Keller am Ende der Verse deutlich aus: Mit ersticktem Jammer tastet’ sie / An der harten Decke her und hin, / Ich vergeß’ das dunkle Antlitz nie, / Immer, immer liegt es mir im Sinn!" Diese Gedanken und die Symbolik, die dahinter steht, kann in vielerlei Hinsicht gedeutet werden. Im einfachsten Falle ist es die Liebe zweier Menschen, die im glücklichen Falle auf Geben und Nehmen beruht, aber getrennt ist. Der Dichter hat hier aber vielleicht auch den unglücklichen Fall einer unerwiderten Liebe umschrieben.
In Bezug auf die technischen und politischen Zeitenwenden des 19. Jahrhunderts (nach dem Biedermeier) mag die Sinndeutung aber noch weiter gehen, indem gesagt wird: Wir brauchen deine Hilfe nicht mehr – du Zeit der Märchen, Deutungen und Träume bist vorbei. Und so bekommst auch du – schönes zartes Mythenwesen – keine Aufmerksamkeit mehr von unserer Seite.
Jene Menschen ließen die alte menschliche Zeitperiode der Weisheit zurück, die auch auf Geheimnissen, Märchen und Mythen gründete. Man hatte sicher kein gutes Gefühl dabei. In Mode kam das rationale Denken und Wissen und die beständige Messung der Zeit. 170 Jahre später gab es wieder solch einen Bruch. Wissen und Erfahrung wurde durch Information verdrängt – durch die Zeit eine Aufmerksamkeits-Vermarktung. Schöne neue Welt! [ZP.GJ.2.14] Zählpixel

Bildrechte: 1. Foto ©quinntheislander–Piyabay.com; Bildmontage ©sergeitokmakov–Piyabay.com


Literatur/Quellen/Bemerkungen:
— Literatur zum Fabelwesen der Nixen: Brockhaus' Konversations-Lexikon Neue revidierte Jubiläums-Ausgabe Zwölfter Band; Leipzig 1908; Seite 396 (Eintrag "Nixe")
— Übrigens: In eine ganz ähnliche Richtung jener Umbruchszeit und ebenfalls mit einer "badenden Wassernixe" geht das Gedicht vom Sommerabend von Heinrich Heine. "Einer der letzten Vertreter und zugleich als Überwinder der Romantik." (wikipedia)
— Ähnlich, aber weniger tiefsinnige Verse dichtete Adolf Friedrich Graf von Schack: Winternacht— und last, but not least schrieb auch Joseph von Eichendorff ein Winternacht-Gedicht, welches hier auf diesen Seiten zu finden ist.