Die Allee – Gedicht von Christian Morgenstern

Allee aus Hainbuchen im Frühling

Ein schönes kurzes Gedicht des deutschen Dichters und Schriftstellers (1871 – 1914), der eigentlich mehr durch seine komische Lyrik bekannt wurde. Diesbezüglich fallen diese romantischen Verse etwas aus dem Rahmen. Ab 1894 lebte Morgenstern in Berlin. In Brandenburg finden sich heute noch viele schöne Alleen. Von dort hat er sicher seine Inspiration.

Die Allee

Ich liebe die graden Alleen
mit ihrer stolzen Flucht.
Ich meine sie münden zu sehen
in blauer Himmelsbucht.

Ich bin sie im Flug zu Ende
und land' in der Ewigkeit.
Wie eine leise Legende
verklingt in mir die Zeit.

Mein Flügel atmet Weiten,
die Menschenkraft nicht kennt:
Groß aus Unendlichkeiten
flammt furchtbar das Firmament.

Interpretation

Alleen begleiten Straßen, welche in die Ferne führen. Und so sind sie in diesem Sinne ein Symbol für das Fernweh. Die von Bäumen rhythmisch begleiteten Chausseen führen in die Freiheit für denjenigen, natürlich nur, wer die Möglichkeit zum Reisen hat. Christian Morgenstern hatte sie. Doch ist auch bekannt, dass der Dichter auf einen dieser Fahrten an einer schweren Bronchitis erkrankte; das war wohl 1909 (in Obermais im Schwarzwald) und erneut im Jahre 1911. Am 31. März 1914 in aller Frühe führte das jahrelange Leiden zu seinem Tode. In diesem Zusammenhang sind die Worte: "Mein Flügel atmet Weiten" natürlich von besonderer, innerer Bedeutung.

Hainbuchen Allee im November 2006Die gleiche Alle, wie im Bild oben. Schlosspark Pulsnitz (Pfefferkuchenstadt) bei Dresden.

Die Symbolik, bzw. das Motiv der Allee birgt aber auch einen besonderen inneren Kontrast. Die Bäume, welche einerseits zwar schützend unseren Lebensweg begleiten und mit ihrem Blätterdach beschirmen, engen andererseits auch ein. Der vorgegebene Pfad ist wie von Soldaten bewacht. Die Bäume am Wegesrand stehen in keiner wild-natürlichen Ordnung, sondern im strengen Rhythmus angeordnet, welcher hier das Unabänderliche der schlagenden Zeit bedeuten könnte. Es ist dem Ordnungssinn des Menschen geschuldet, Bäume in Reihen zu pflanzen. Ebenso ist die Einteilung der Zeit Menschenwerk. In deren Kontrast erscheint die Ewigkeit als etwas Ungreifbares. Der Mensch, der zu sehr "Kulturmensch" und zu sehr "zivilisiert" ist, kann diese Dimension der Zeitlosigkeit nicht fassen: "Groß aus Unendlichkeiten flammt furchtbar das Firmament." Es ist die Zeit einer anderen Ordnung.

Übrigens: Interessant ist die Tatsache, dass Morgenstern Gedicht "Steine statt Brot" ebenfalls einem Baumgang gewidmet war, allerdings in kritischer Form. Das Objekt seines sarkastischen Gedichts ist die Siegesallee im Tiergarten (Berlin), welche von Kaiser Wilhelm II nach 1895 in monumentaler Form ausgebaut werden sollte. [1]


Quellen:

  • Christian Morgenstern; Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 7; Basel 1971–1973; S. 41-42.
  • [1] Jan Röhnert; Literatur – Universalie und Kulturenspezifikum; Göttingen 2010; S. 92.
  • [GJ.4.2] Zählpixel I