Winterlandschaft mit aufgehender SonneWenn alles schläft und träumt...
Wenn alles schläft und träumt...

Schläft ein Lied in allen Dingen... Ein kurzes, verträumtes Gedicht von Joseph von Eichendorff [1]. Eigentlich treffen die wenigen Zeilen auf alle Wunder der Natur zu. Doch gerade im Winter, wenn wir auf verschlafene Schneelandschaften oder zugefrorene Gewässer schauen und die verborgene Lebendigkeit der Natur nur erahnen, kommen uns solche Gedanken in den Sinn. Über das Zauberwort als Metapher, welches der Dichter in seinen Zeilen meint, haben sich schon viele Interpreten den Kopf zerbrochen. Auch dass in allen Dingen ein Lied schlafen soll, klingt im ersten Moment merkwürdig. Meiner Ansicht nach könnte es die naturromantische Vorstellung Eichendorffs sein, der alles, auch die unbelebte Natur, in einem zwar schlafenden jedoch beseelten Zustand sieht.
Ob wir diese Sichtweise übernehmen können oder unsere Umwelt nüchtern wissenschaftlich sehen, es handelt sich um ein wunderschönes, kurzes Gedicht, welches leicht und schnell zu lernen ist. Verinnerlicht kann es uns das ganze Leben lang begleiten.

∼ Wünschelrute ∼

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

J. v. Eichendorff

Gedichtinterpretation

Das Gedicht von Joseph von Eichendorff, welches etwas merkwürdig anmutend mit "Wünschelrute" überschrieben ist, mag zwar explizit kein Wintergedicht sein. Doch wollen wir diese Zeilen verstehen, ist es gut, sich eine verschlafene Winterlandschaft vorzustellen. In diesem Sinne können wir die Worte auch als winterliches Jahreszeitengedicht rezitieren.
Wenn dann der Frühling mit seinen sanften Harfentönen südlicher Briesen und Düfte die schlafende Natur weckt und verzaubert, wenn die Vogelwelt erwacht, und die Luft vom Summen der Bienen förmlich vibriert, mögen wir nur noch Herders Dichterworte "Licht, Liebe, Leben" zitieren und haben damit der Zauberworte genug gefunden, welche die winterliche Dunkelheit und Kälte innerhalb weniger Tage und Wochen in Wärme und Helligkeit verwandeln können.
Wie die ersten Frühlingsblumen aus düsteren, verdorrten Erdkammern erwachen und das Leben sich entfaltet, geschieht es auf ähnliche Weise, wie der Wünschelrutengänger in der Tiefe der Erde Wasseradern erspürt. Mit dem Vertrauen zu seinen eigenen, wiederum verborgenen Fähigkeiten finden die erahnten Quellen nun ihr Ziel im Sonnenlicht.
Und so verschieden wir Menschen sind, so verschieden sind auch die versteckten Melodien in uns, die durch Licht und Wärme sichtbar und lebendig gemacht werden können. Jeder von uns hat verdeckt schlafende Fähigkeiten in sich, die es durch Vertrauen und Zuversicht zu wecken gilt. Dazu braucht es ein wenig vom Wesen eines Wünschelrutengängers und ein Urvertrauen sowohl zu den göttlichen Gesetzen der Natur als auch zu uns selbst.
Vertraue dir!
Ist vielleicht Vertrauen das gesuchte Zauberwort?

Weitere Erläuterungen und weitere Literatur
— [1] Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff gehört zu den bedeutensten Dichtern und Lyrikern der deutschen Romantik. Er lebte von 1788 bis 1857.
— Groepper, Viktoria; Sehnsucht und Symbolik bei Eichendorff - eine Analyse des Gefühls der Sehnsucht sowie der Symbole und Kontraste im Werk Eichendorffs (Bachelorarbeit); Norderstedt 2011
— Schau, Albrecht; Märchenformen bei Eichendorff: Beiträge zu ihrem Verständnis; 1970 daraus ein Zitat zur Zauberei und Magie bei Eichendorff:
Die Wünschelrute ist [...] einerseits das Zeichen der Erwähltheit, zugleich aber Ausdruck einer Machtbeschränkung; denn nur zur Auffindung eines verborgenen Schatzes taugt dieses "Instrument". (Seite 21)
— Es gibt eine wunderschöne Vertonung als vierstimmiger Kanon durch Max Frey (geb. 1941), ehem. Chorleiter am Theater München. z.B. https://www.youtube.com/watch?v=Nt6f_1I5roY ; des Weiteren eine Vertonung von Wolfgang König (geb. 1947) Musiker, Dirigent und Musical-Komponist; und etliche weitere Vertonungen verschiedener Komponisten.
[ZP.GJ.2.12] Zählpixel