Als Bildzeichen der Neuzeit ist der Hermesstab (lat. Caduceus) [1] ein Kaufmannssymbol und mitunter ein Berufszeichen der Ärzte geworden. Allgemein interpretiert symbolisiert dieser Stab die Vereinigung zweier Gegensätze. Dargestellt ist er meist mit zwei Schlangen, welche sich symmetrisch um den Stab winden und deren Köpfe sich am oberen Ende anschauen. Oft befindet sich über den Schlangenköpfen am Ende des Stabes noch ein Flügelpaar. In seiner Gesamtheit ist seine Bedeutung dualistisch positivistisch.
Hermesstab (Caduceus) – Berufssymbol der Diplomaten und Händler
In der Antike war der Hermesstab ein Erkennungszeichen der Herolde (daher auch der Name Heroldsstab), also der autorisierten, herrschaftlichen Boten, welche auch Immunität besaßen, wenn sie Überbringer politischer, militärischer oder geheimer Botschaften waren. Der Stab sicherte dem Boten Immunität zu und sorgte für eine schadlose Heimkehr.
In diesem eigentlichen Sinne ist die Symbolik des Stabes zuallererst zu betrachten. Vielleicht sahen die Händler sich später auch als eine Art Boten aus der Ferne, und tatsächlich genossen sie vielerorts eine gewisse Immunität und ähnliche Privilegien.
Die Eigenschaft als Götterbote wurde dem Hermes (römisch Merkur) zugesprochen. Um die Hermes-Symbolik im Ganzen verstehen zu können, ist es vielleicht sinnvoll, das Wesen der griechischen Gottheit [2] als das eines Windgottes aufzufassen. So erklärt sich die Bedeutung des Hermes als Diener der Götter, namentlich des Zeus, da man den Wind als ein Werkzeug der Götter (vor allem des Zeus) sah. Demzufolge übertrug man auf ihn das Ideal des Berufsstandes der Herolde (heute Diplomaten), welche gleichzeitig ein hohes Maß an Klugheit und Bildung verkörperten. In diesem Sinne schrieb man dem Hermes unter anderem die Erfindung des Opferfeuers, der Leier (Harfe), Flöte, Sprache, Schrift sowie der ägyptischen Sphinx zu.
2) Darstellungsvariante des Stabes mit Schlangen als Arztsymbol auf einem Grabmal.
Dass dem Hermes eben auch eine gewisse weltliche Gewandtheit sowie Klugheit unterstellt wurde, zeigt uns ein homerischer Hymnos, der im Zusammenhang mit dem Hermesstab steht. Unmittelbar nach seiner Geburt auf der Kyllene ging Hermes nach Pylos, wo die Götterrinder des Apollon weideten, um einige von ihnen zu stehlen. Er verkehrte deren Hufe, dass man ihre Spuren in die falsche Richtung gehend wähnte, und ging selber bei seinem Diebstahl rückwärts. Außerdem band er sich Zweige unter die Füße, um die Spuren zusätzlich zu verwischen.
Doch Apollon, der Gott des Lichtes, der Heilung und der Künste, entdeckte mit seiner Wahrsagergabe den Dieb der Rinder und verklagte den Hermes beim Göttervater Zeus, vor dem sich jener jedoch durch geschickte Lügen zu rechtfertigen suchte. Schließlich gehorchte Hermes aber dem Befehl des Zeus, gab die gestohlenen Rinder heraus und versöhnte sich mit dem Apollon, dem er die gerade erfundene Lyra abtrat (siehe Symbolik der Lyra), wogegen Apollon ihm einen goldenen Heroldsstab verlieh.
Auflösung von Gegensätzen – Symbol der Heilkunst
Doch damit nicht genug. Aus dem Mythos kann man auch noch die weiterführende Symbolik des Hermesstabes herauslesen. Dabei handelt es sich um die Auflösung von Zwist und Widerstreit hin zu Harmonie und Versöhnung. In diesem Zusammenhang versinnbildlicht die Lyra in der griechischen Symbolik die Harmonie des Universum von der Gefühlsebene her, und der Hermesstab von der Verstandesebene.
Mit der Doppelschlange ist der Hermesstab also auch ein Symbol der Harmonie. Die zwei Schlangen sind dualistisch als ein Gegensatzpaar zu deuten, welche den Stab umschlingend wiederum eine Einheit bilden. Mit dieser Darstellung der Vereinigung von Gegensätzen sind die Schlangen auch ein Bildzeichen für die Heilung, gemäß dem Grundsatz "Natur kann Natur überwinden", so wie es die Homöopathie verkündet.
Im Bild 2) sehen wir auf dem Grabstein eines Arztes den Hermesstab mit zwei Schlangen. Zwar mag dieses Symbol dem Äskulapstab (typisches Berufssymbol der Ärzte) ähnlich sein, bei dem sich eine einzelne Schlange an einem Stab emporwindet, doch hat die Doppelschlange eine gänzlich andere Bedeutung. Die Schlange am Äskulapstab bildet aufstrebende Erkenntnisfähigkeit ab. Die beiden verbundenen Schlangen des Hermesstabs hingegen stehen für das Gleichgewicht der Gegensätzlichkeiten und für die Schaffung einer innerlichen Harmonie. Auf die Gesundheit bezogen ist es ein Grundprinzip der fernöstlichen Heilkunde.
3) Caduceus mit Flügeln
Hermes - Trismegistos und Mystik
Später, also in der späten Antike, kam es zu einer Weiterentwicklung der Götter-Gestalt des Hermes. In einer Zeit weitentwickelter Religionsphilosophie verband man den griechischen Hermes synkretistisch mit dem ägyptischen Mondgott Thot, welcher ebenfalls als Urheber der Wissenschaften, der Weisheit und des Kalenders galt. Hermes Trismegistos verkörperte diese griechisch-ägyptische Gottheit, und im Sinne der dualistischen Mondsymbolik ist dann auch der Schlangenstab des Hermes zu verstehen. In der Spätantike, aber auch bereit bei den alten Griechen, hatte der Götterbote des Windes und der Luft noch einen weiteren Aspekt. Er galt als Geleitperson der luftartig gedachten Seelen ins Jenseits, also in den Hades (Hermes Psychopompos = Seelengeleiter).
Wie die Seelen scheinen auch die ihnen verwandten Traumbilder aus der Luft zu stammen und dem Schlafenden vom Winde zugeführt zu werden. Darum ist Hermes zugleich Seelenführer und Traumgott geworden. Damit hat die ganze Mythologie nun auch noch eine transzendente Seite bekommen, welche sich mit dem Götterbild des spätantiken Hermes Trismegistos verstärkte. In diesem Zusammenhang entstand, vermutlich in der Zeit von 100 bis 300 n. Chr., eine Schriftsammlung mit religionsphilosophischem Inhalt, der "Corpus Hermeticum".
Diese sogenannten "Hermetischen Schriften" wurden im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissancezeit wiederentdeckt und nahmen in der Alchemie und in den Geheimwissenschaften und -bünden eine weitere Entwicklung. Dabei muss die Alchemie einerseits rein als frühe Wissenschaft verstanden werden, die andererseits stark mit spekulativem Gedankengut verschmolz, ähnlich wie wir das von der Astrologie her kennen. Ein Beispiel einer solchen alchemistischen, magisch angehauchten Schrift [3] soll uns das verdeutlichen.
Symbol der Alchemisten
Hermes (Merkur) sowie die Symbolik des Hermesstabes spielte in der sogenannten Hermetik und in der Alchemie des Mittelalters und des Nachmittelalters eine große Rolle. Im folgenden, schönen Beispiel einer solchen hermetisch-alchemistischen Schrift finden wir die Hermessymbolik im Bild der zwei Schlangen (Gegensatzpaare) wieder, die miteinander verschmolzen werden sollen. In den philosophischen Spekulationen der Alchemie sind es der männliche Schwefel und das weibliche Quecksilber in der Gold-Synthese.
Darstellung des Hermes in einer alten Handschrift: "Hermetische Philosophie oder wahre, würckliche und aufrichtige Beschreibung des Steines der Weisen von Friedrich Gualdo, einem deutschen hermetischen Philosophen und wahren Adepten." Der folgende Textauszug ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass uns diese alten kryptischen, mystischen Texte und Vorstellungen weitgehend verschlossen bleiben, denn darin mischt sich vorwissenschaftliches Denken mit spätantiker Mystik.
4) Mercurius, der das alchemistische Quecksilber versinnbildlicht, aus einer alchemistischen Schrift aus dem 15. Jahrhundert.
C a p i t e l 10. Dieses ist unser glänzender Mercur, das große Geheimnis des Allmächtigen; dieses ist unser Mond und Diana, welches zubereitet alle Krankheiten heilet; dieses ist unsere glänzende Beya, welche den Gabrizio zum Gemahl nimmt. O! großes Werck, der einfachen Natur!
Dieses zeigt auch die 2te Figur. Wenn Mars mit dem Löwen vereinigt ist, ist unser Mercur bereitet. Diesen Mercur, gebet gemeines, reines Gold mit dem harten Mineral Wasser: nicht sehr fließend, sondern wie Butter, damit Beya und Gabrizio sich küssen können. –
C a p i t e l 11. So zeige ich euch, meine Kinder! deutlich durch die 3te Figur [wie im Bild 4) zu sehen], oder gegenwärtige Schrift, daß das Weib nicht ohne den Mann zeugen kann, daher muß Beya mit Gabrizio vereinigt sein. – Jetzt wird Mercur ganz Sonne sein, die Sonne ganz Mond. – O! großer Mercur, in Dir vereinigt sich Silber und Gold-Extract aus der würcklichen Kraft. – Wenn Gold, Monde und unser Mineral-Wasser sich vereinigen, wie die Figur auch zeigt, wird eins wie das andere ganz Gold sein, und aus diesen dreien entsteht unser Mohr, das heißt: Der schwarze Rabe die weiße Königin, der rothe König, unser Schwefel ohne Malve. –
C a p i t e l 12. Aus den Metallen wird belebter Saame, und aus unserer Vereinigung Gold-Mercur. Nehmet dann von unserem belebten Mercur, und unserm wohlgeläuterten Golde, vereinigt sie sorgfältig mit ihrem Gewicht und unserer Kunst, daß die Frau nicht sehr den Mann übersteige, doch aber etwas, so wird die erste Vereinigung vollendet sein. –
C a p i t e l 12. Betrachtet die Irrthümer der unwissenden Menschen, welche nach einem gemeinen Namen trachten. Sie brauchen gemeinen Mercur und Gold und glauben durch solches Werck, das flüchtige Silber aufzuhalten. Allein wenn sie den verborgenen Sinnen den Geist öffnen, so werden sie sehen, daß beiden der agentische (Silber) Geist fehlt. Gold mit unserm Mond vereinigt, zeugen unsern Schwefel, wahrer Gold-Saame. –
- [1] Wortbedeutung lateinisch caduceus; griechisch κηρύκειον kērýkeion, von κῆρυξ kēryx „Herold“; auch ῥάϐδος rhabdos „Stab“
- [2] ein besonders in Arkadien und im übrigen Peloponnes sowie in Attika, Böotien, Phokis und Thessalien verehrte Gottheit
- [3] Schriftgut aus den Kreisen der Rosenkreuzer
- Bildquelle Bild 4): Geschichte der Freimaurerei in Deutschland von Ferdinand Runkel, 1932