Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus... Ein feierliches Weihnachtsgedicht des Dichters und Romatikers Joseph Freiherr von Eichendorff (1788 – 1857) in vier Strophen. Poesie passend zur Advents- und Weihnachtszeit. Obwohl diese Zeilen gut zweihundert Jahre alt sind, so sind sie doch zeitlos. Neben den Blick auf die weihnachtlich geschmückten und erleuchteten Fenster der Gassen, schaut der Dichter auch auf die Natur. Besonders der Sternenhimmel hat es im angetan. So stellt er in den vier Versen den Mikrokosmos und Makrokosmos unserer Tage auf beschauliche und sehr romantische Art und Weise gegenüber. Nach Tagen vorweihnachtlicher Aktivitäten, gibt er mit seinen gedanklichen Anregungen nun die Gelegenheit, die Stille dieser Heiligen Nacht gewahr zu werden. Ein Angebot für jedermann.
∼ Weihnachten ∼
Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wundervoll beglückt.
Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins weite Feld,
Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt's wie wunderbares Singen –
O du gnadenreiche Zeit!
Joseph von Eichendorff
Interpretation des Weihnachtsgedichts
Die Tage um das Christfest herum sind eine interessante Zeit, doch auch schon die Wochen zuvor. Schon mit der Zeit des späten und ausklingenden Spätsommers, des sogenannten Altweiber- oder Martinisommers, beginnen die Tage rasant kürzer zu werden, ohne dass wir das besonders wahrnehmen. Meistens ist es so, dass wir nach den langen Wochen von Ferien und Sommerurlaub, wieder rasch in alle möglichen Alltagsaktivitäten hineingezogen werden. Es beginnen Wochen einer gewissen Rastlosigkeit. Irgendwann heißt es dann auch noch: "In zwei Monaten ist schon wieder Weihnachten ... in einem Monat ist schon Weihnachten ... jetzt ist schon wieder Advent ... morgen ist Nikolaustag" und so weiter und so fort.
In diesen vorweihnachtlichen Tagen und Wochen wird traditionell gebacken, nach Geschenken gesucht, Läden und Weihnachtsmärkte durchstöbert, die Wohnung geschmückt, Zusammenkünfte geplant und vieles mehr. Merkwürdig ist, dass wir dabei unaufhaltsam in die "dunkle Jahreszeit" hineingeraten, denn um den 21. Dezember zur Wintersonnenwende, sind die Nächte des Jahres am längsten und die lichten Stunden die wenigsten (etwas über sieben Stunden). Der eine oder andere mag in diesen Tagen depressiv werden – besonders dann, wenn die genannten Aktivitäten fehlen – doch die Masse unserer Mitmenschen ist weniger melancholisch; höchstens wenn in den Erinnerungen an die Kinderzeit geschwelgt wird.
Durch die meist positiv geprägte Unruhe vor den Feiertagen, spüren wir die Dunkelheit der Natur weniger. Die stürmischen, und nassen Regentage der Vorweihnachtszeit empfinden wir weniger unbehaglich, als sonst. Sie gehören eben dazu.
Kurz vor Weihnachten und besonders am Heiligen Abend, dem Fest der Geburt Jesu (und dem Abend, welcher der Familiengemeinschaft geweiht ist), bricht dann nach und nach unsere Unrast in sich zusammen. Gehen wir dann durch die Gassen unserer Stadt, kommt sie uns wie verwandelt vor: "Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus. Sinnend geh ich durch die Gassen, alles sieht so festlich aus."
Verlassen wir dann die Enge der Straßen, fühlen wir alsbald unsere Position in dieser Welt. Wir stellen fest, dass sich unser Leben in einem kleinen Mikrokosmos abspielt und bemerken dann mit staunen eine ganz andere Dimension. Hier im Weihnachtsgedicht ist sie durch den Sternenhimmel symbolisiert. Den Blick in das weite Sternenmeer und das Gefühl dabei, umschreibt uns der Dichter mit "heiligem Schauern". Dieses mag daher rühren, dass wir so selten diese ganz andere Perspektive begreifen mögen. So wie wir ganz selten den Anblick des Sternenhimmels sinnierend genießen, vergessen wir über größere Zusammenhänge nachzudenken.
Doch der Dichter führt uns weiter durch seine Gedankenwelt. Ist der winterliche Sternenhimmel von Wolken getrübt, bemerken wir das leise rieseln von Schnellflocken, ebenfalls in einer merkwürdigen Gemütsverfassung. In der Dunkelheit der Nacht wird dieser Schnee, der wie aus dem Nichts erscheint und aus einsamen Welten zur Erde niederfällt, zu einem Sinnbild des Geheimnisvollen in dieser Welt. Die Schneeflocken bedecken und verzaubern mit einem Schlage unsere gewohnten Bilder und vereinfachen sie, was uns wiederum ein Sinnbild sein mag.
Am Ende kommt der Romantiker Eichendorff dann aber doch ganz schnell in die durchaus schöne Realität zurück: "Aus des Schnees Einsamkeit Steigt's wie wunderbares Singen – O du gnadenreiche Zeit!"
Es scheint so, dass den Dichter Eichendorff die Stille der Nächte besonders tief bewegten. Das zeigen weitere seiner Gedichte im Jahreskreis. Einige finden sich hier auf diesen Seiten (mit Interpretation), wie Eichendorffs Winternacht, die mystische Mondnacht oder seine Zeilen: "Schläft ein Lied in allen Dingen...". Lichtere Verse finden sich im berühmten Frühlingsgedicht "Frühling lässt sein blaues Band...", aber auch Liebesgedichte, wie die Verschwiegene Liebe. Doch selbst in letzterem wurde die Nacht thematisiert.
Übrigens: Was das Mystische der Nächte betrifft, so ist es am Ende doch auch so, dass wir in unserer Wahrnehmung – je dunkler es um uns her wird – mit unserer Umgebung mental verschmelzen. Es verschwinden die Differenzierungen zwischen den Dingen und die Differenzierung zwischen uns und unserer Umgebung. Wir bekommen eine ganz andere Art der Wahrnehmung. Statt der physischen Augen werden die Sehorgane des Unterbewusstseins und der Phantasie aktiv. Das sind wir so gewohnt und kennen es. Natürlich nutzten die Dichter jener Zeit (dessen Broterwerb das Dichten und Schreiben war) alle verfügbaren Möglichkeiten, ihren Lesern stimmungsvolle Dichterwort zu präsentieren. Wenn sie in ihren Gedichten intensiv mit unseren Stimmungen und Phantasien spielten, was das sicher nicht nur dichterische Romantik, sondern auch geschäftliches Kalkül – oder?
[ZP.GJ.2.5]